Sieben Uhr in der Früh. Vera schaltete ihren Computer an ihrem zugewiesenen Arbeitsplatz im Großraumbüro an. Wie jeden Tag öffnete sie als Erstes ihr E-Mail-Programm, überflog die einzelnen Betreffzeilen und klickte hier und da eine E-Mail an, um den ganzen Inhalt zu lesen. Zehn Minuten später hatte sie einen groben Überblick über die jeweilige Dringlichkeit der zu bearbeiteten E-Mails.
Erste Priorität erteilte Vera folgender Mitteilung aus der Versandabteilung:
Liebe Frau Kurlau,
der Kunde Berlichinger aus München hat drei Container Oberflächenversiegeler für übermorgen bestellt. Der Artikel ist aber auf inaktiv gesetzt und wir können ihn nicht verkaufen.
Wir bitten um Reaktivierung des Artikels.
Viele Grüße
J. Borland / Versand
Vera schaute im Materialstamm der Firma nach. Dort stellte sie aufgrund des Paragraphenzeichens vor der Artikelnummer fest, dass dieser Artikel von der „Big Brother is watching you“-Abteilung, wie sie intern nur genannt wurde, inaktiviert wurde. Diese Überwachungsabteilung überprüfte, ob die aktiven Artikel in den letzten sechs Monaten verkauft wurden. Falls nicht, wurden sie gnadenlos auf „Inaktiv“ gesetzt.
Sie seufzte. Jeden Tag hatte sie mindestens drei solcher Inaktivierungen zu bearbeiten, die von ihrer Geschäftseinheit weder gewollt noch veranlasst wurden. Im Gegenteil. Unzählige Besprechungen und Diskussionen fanden bereits statt, diesen Irrsinn doch bitte zu unterlassen oder zumindest eine Information an die betroffene Geschäftseinheit zu senden.
Vera öffnete ihre E-Mail-Vorlage mit der Betreffzeile: Bitte um Reaktivierung.
Die gespeicherten, bereits standardmäßig erforderlichen, Angaben ergänzte sie mit der Angabe der Artikelnummer des zu reaktivierenden Produktes sowie der Begründung, warum der Artikel reaktiviert werden sollte. Dieses Feld füllte sie mit den Worten aus: Kunde hat drei Container bestellt, Liefertermin: übermorgen.
Dann schickte sie die E-Mail an die „Big-Brother-Abteilung“.
Anschließend arbeitete sie die weiteren E-Mails ihres Posteingangsfachs ab. Um halb neun kam wie gewohnt ihre Kollegin aus dem vierten Stock, um sie zu einer kurzen Zigarettenpause abzuholen. Sie gingen nach draußen, rauchten und tauschten die neuesten Klatschgeschichten aus der Firma aus. Zurück am Arbeitsplatz sah Vera, dass sie eine Antwort der „Big-Brother-Abteilung“ erhalten hatte. Mit einem Mausklick öffnete sie die E-Mail. Sie las:
Sehr geehrte Frau Kurlau,
bitte teilen Sie uns mit, welche voraussichtlichen Umsätze mit diesem Artikel im nächsten Jahr zu erwarten sind, wer die potentiellen Kunden sein werden (Aufgeschlüsselt in A-, B-, und C-Kategorien) und ob Sie nicht ein Alternativprodukt anbieten können.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr ÜWA-Team
Vera starrte fassungslos auf die Rückmeldung. Sie klickte auf „Antworten“, setzte den Produktmanager, Herrn Dr. Schiling, in Kopie und schrieb:
Sehr geehrte Damen und Herren,
das Produkt Oberflächenversiegeler ist eines unserer Hauptprodukte. Es wird wöchentlich tankzugweise in alle Herren Länder verkauft. Unser Kunde Berlichinger macht mit anderen Produkten aus unserer Palette einen enormen Umsatz, nur hat er für dieses Produkt keine so große Verwendung, da sein hauptsächliches Wirkungsgebiet ein anderes ist.
Er benötigt somit keinen ganzen Tankzug, sondern eben „nur“ drei Container unseres Produktes.
Ich möchte Sie daher nochmals dringend bitten, diesen Artikel zu reaktivieren, da der Liefertermin bereits übermorgen ist.
@Dr. Schiling:
Würden Sie bitte die o. a. Fragen beantworten? Danke.
Mit freundlichen Grüßen
Vera Kurlau / Materialstammdatenpflege
Vera fluchte leise vor sich hin. Fünf Schreibtische hinter ihr rief der Versandleiter ihr zu: „Hat sich schon was getan in Sachen Oberflächenversiegeler?“
„Big-Brother stellt sich mal wieder stur – aber ich arbeite daran.“
„Ich muss morgen spätestens um neun Uhr den LKW beladen lassen, das heißt, ich brauche die Reaktivierung noch heute!“
„Ist mir schon klar!“, rief Vera zurück. „Ich bin dran – aber ich kann nichts versprechen.“
In solchen Situationen hasste Vera ihren Job. Eigentlich sollte sie die Herrin des Materialstamms ihrer Geschäftseinheit sein. Aber die Big-Brother-Abteilung stand über allen Geschäftseinheiten und konnte beliebig im Materialstamm löschen. Zu keinem Zeitpunkt hatte Vera einen wirklichen Überblick über ihre aktiven und inaktiven Produkte. Denn das änderte sich dank „Big-Brother“ stündlich.
Vera widmete sich den anderen Aufgaben, die sie zu erledigen hatte. Gegen dreizehn Uhr ploppte wieder ihr Infofenster-Fenster auf, dass sie eine neue E-Mail erhalten habe. Dieses Mal von Dr. Schiling. Sofort öffnete sie die E-Mail und las:
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir haben für das Produkt „Oberflächenversiegeler„ Anfang des Jahres eine genaue Umsatzschätzung an Ihre Abteilung weitergegeben. Sie belief sich auf prognostizierte 125.000 € in diesem Jahr. Was wir allerdings beim besten Willen nicht voraussagen können ist, in welchen Gebinden die Verkäufe stattfinden werden.
In unserem Technischen Merkblatt zu diesem Produkt haben wir die Gebinde: Tankzug, Container, Fass und Kanister angegeben. Diese Gebinde müssen somit auch jederzeit lieferbar sein.
Ich möchte Sie daher dringend bitten, den Artikel 35789076 – Container – Oberflächenversiegeler für den Verkauf frei zu geben.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Schiling / Produktmanager
Die Antwort des „Big-Brother-Teams“ kam keine zwei Minuten später:
Sehr geehrter Herr Dr. Schiling, sehr geehrte Frau Kurlau,
das Argument: „Der Kunde hat das Produkt in diesem Gebinde bestellt“ reicht für eine Reaktivierung nicht aus. Der Artikel wird nicht reaktiviert.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr ÜWA-Team